Forschungsprojekt zu Haubenstock-Ramati
Roman Haubenstock-Ramatis dynamische Formbehandlung
Forschungsprojekt von Florian Henri Besthorn
Dank seiner künstlerischen Doppelbegabung gestaltete Roman Haubenstock-Ramati (RHR) seine Partituren sehr kreativ und gab innovative Impulse im Bereich der graphischen Notation. Zugleich setzte er sich aber stets kritisch mit der Formgebung auseinander, wobei er sich insbesondere von den kinetischen Werken Alexander Calders inspirieren ließ. In seinem Mobile for Shakespeare für Stimme und sechs Spieler (1958) schuf er etwa eine variable Form, die sich in 28 „Feldern“ niederschlägt, welche sich – sehr divers gestaltet – zu einem großen Partitur-Bild zusammenfügen. Darin wird einerseits klar ein Rahmen gesetzt und andererseits den Interpreten eine große Freiheit zugesprochen.
Ausgehend von einer „Semantik des vorbelasteten Materials“ hob RHR die stabilisierende „Ein-Deutigkeit“ des Werkablaufs auf, indem er eine „neue Beziehung des Materials [und] der Mikrostrukturen zueinander“ und dadurch eine gewisse Werk-Variabilität schuf. Seine „dynamisch-geschlossenen“ Formen führten zugleich zu einer Auseinandersetzung mit der Notation, die sich zunehmend von dem traditionellen Fünf-Linien-System hin zu graphischen Partituren entfernte. Schließlich hatten seine Ensemble-Blätter einen derart großen visuellen Reiz, dass sich RHR entschloss, sein genuin bildnerisches Œuvre von seinen graphisch notierten Kompositionen abzusetzen. Neben den zu interpretierenden graphischen Partituren der 1970er Jahre entstand beispielsweise auch ein Siebdruck-Zyklus ALEA zu einem Text von Peter Vujica als Kunstedition oder das Buch Musik-Grafik Pre-Texte (1980).
Im Zentrum des aktuellen Forschungsvorhabens steht die Frage, wie RHR die „dynamisch-geschlossenen“ Formen auf Werke anwandte, die auf literarischen Texten fußen, sich also bereits mit einer vorgegebenen Architektur auseinandersetzen mussten. Wurden seine Kompositionen bislang zumeist exemplarisch als Werke graphischer Notation hervorgehobenen, soll hier die Notwendigkeit von alternativen Notationsformen aufgrund formaler Konzeptionen beleuchtet werden. Untersucht wird, wie sich die Erfahrungen mit „Mobiles“ auf die musiktheatralen Werke RHRs ausgewirkt haben, denn auch die Architekturen großbesetzter Werke sind variabel gehalten und behalten teils bewusst etwas „Unvollendetes“. Etwa in den Credentials or »think, think Lucky« spitzt der Komponist einen Monolog aus Becketts Warten auf Godot auf das Schlüsselwort „unfinished“ zu und er wählte für seine erste Oper bewusst einen unvollendeten Roman mit offenem Ende als Grundlage: Franz Kafkas Amerika. Besteht das Libretto größtenteils aus Wortfetzen der Vorlage, stehen dem Fragment-Charakter die abendfüllende Spielzeit sowie eine sich überlagernde Mehrschichtigkeit diverser Ensembles gegenüber; eine dramatische Entwicklung findet dabei nicht statt, sondern die 25 Szenen scheinen wie zufällig aneinandergereiht oder gar simultane Geschehnisse abzubilden.
Biographischer Abriss des Komponisten
Roman Haubenstock-Ramati wurde am 27. Februar 1919 in Krakau geboren, und begann am dortigen Konservatorium ein Musikstudium, bevor er aufgrund der großdeutschen Expansion 1939 nach Lemberg fliehen musste. Dort erhielt er u. a. Kompositions- und Dirigierunterricht bei Józef Koffler, der ihm auch die „2. Wiener Schule“ näherbrachte. 1941 wurde er unter Spionageverdacht von sowjetischen Soldaten festgenommen und verschleppt. Später konnte RHR fliehen und schlug sich nach Palästina durch; einer seiner Brüder und seine Eltern wurden hingegen in deutschen Vernichtungslagern umgebracht.
Zwar kehrte RHR 1947 nach Krakau zurück, doch der realexistierende Sozialismus veranlassten ihn und seine Frau dazu, 1950 nach Tel Aviv zu ziehen. Die Kompositionen, die RHR in Israel anfertigte, wurden von den dortigen Musikern als zu gewagt bewertet und mehrere Aufführungsversuche scheiterten. Das von Heinrich Strobel 1954 auf den Donaueschinger Musiktagen programmierte Bénédictions/Blessings für Sopran und neun Instrumente kann als erster großer internationaler Erfolg des Komponisten angesehen werden. Die musiktheoretischen Diskurse und das interpretatorische Niveau zogen RHR wieder zurück nach Mitteleuropa: 1957 folgte er einer Einladung Pierre Schaeffers an das Studio des Recherches de Musique Concrete (Paris) und zog noch im selben Jahr nach Wien, um im Verlag der Universal Edition im Lektorat für neue Musik zu arbeiten.
Als musikalisch-graphische Doppelbegabung experimentierte RHR nicht nur kreativ mit neuen Notationsformen in seinen Werken, sondern führte in seiner Rolle als Verlagsmitarbeiter auch neue Standards in Partituren ein. Der Austausch mit anderen Komponisten führte etwa 1959 zur ersten Ausstellung von „Musikalischen Graphiken“ in Donaueschingen und theoretischen Auseinandersetzungen mit Formfragen, die 1964 und 1965 auch in Referaten bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt zur Diskussion gestellt wurden. 1973 wurde RHR Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien und leitete zudem von 1976 bis 1986 das dortige Institut für Elektroakustik und Experimentelle Musik. Am 3. März 1994 verstarb RHR nach langer Krankheit in Wien.