Institut für Musikwissenschaft
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66 Kastraten im Netz (SZ vom 23. Dezember 2008)

Beispielhaft: das „Bayerische Musiker-Lexikon Online“ (BMLO)

Süddeutsche Zeitung vom 23. Dezember 2008

Nehmen wir an, einen Musikfreund überfällt an einem der dämmrigen Winternachmittage ein unbezähmbarer Wissensdurst. Er will keinen Glühwein mehr, auch keine Bioplätzchen, sondern er möchte vielleicht wissen, ob es Kastraten-Sänger in Bayern gab. Solche der delikaten Spezies, die uns jetzt wieder die Gänsehaut in den Händel-Opern über den Rücken treiben. Oder wer im Hofopernorchester 1781 bei Mozarts erster „Idomeneo"- Aufführung mitgespielt hat. Welche Frauen in Bayern komponiert haben, oder wo der Nachlass von Karl Amadeus Hartmann liegt.

Da wird er meistens zu einem bewährten Lexikon greifen. Oder sich hoffnungsvoll in die Jagdgründe des Internets begeben und „Kastraten“, „Mozart“, „Komponistinnen“ oder „Hartmann“ eintippen. Dort wird er allerdings für das Detail aus Bayerns Musikgeschichte kaum fündig werden. Trotzdem braucht er das Zimmer nicht zu verlassen, um seine Leidenschaft zu stillen: Mit www.bmlo.uni-muenchen.de über seinen Internet-Zugang gelangt er mitten in ein Meer von Information und Wissen. Er kann „Kastraten“ eintippen und die Namen und Lebensdaten von 66 Kastraten in Bayern erfahren, davon 56 allein in München.

Oder er kann auf die Surfjagd nach ungeahnten Funden gehen. Es wird immer eine anregende Pirsch in die reiche bayerische Musikgeschichte werden, denn das „Bayerische Musiker-Lexikon Online“ (BMLO) liefert als besondere Recherchemöglichkeit eben nicht nur die Namen, sondern viele Begriffe, mit denen ihre sozialgeschichtlichen, geographischen oder genealogischen Kontexte erschlossen werden. Über Richard Wagner oder Orlando di Lasso Auskunft zu bekommen, ist ja kein Kunststück, obwohl im BMLO jetzt bereits 23 700 Personen erfasst sind - das sind mehr als im größten deutschen Standardlexikon des Genres, „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG), das sich mit 18 000 Namen begnügt. Aber herauszufinden, welche Notendrucker, Klavierbauer, Posaunisten oder Instrumentensammler tätig waren, wie viele Oboisten im Hofopernorchester auch Flöte spielen konnten und wie sie hießen, oder welche Berufe die „Meistersinger“ hatten - das gelingt nur mit dem BMLO.

20 066 Datensätze sind mittlerweile in der 2004 gegründeten digitalen Bibliothek mit dem dezenten Logo einer Grille verfügbar. 10 000 Personen sind erstmals überhaupt dokumentiert, wie kürzlich Musikwissenschafts-Ordinarius Hartmut Schick und Klaus Ceynowa, der stellvertretende Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, erläuterten, als sie den neuesten Stand des Projekts präsentierten. Aber das ist nicht alles. Dazu kommen Werkverzeichnisse, Notenbeispiele, teilweise sogar im Autograph, und diverse Multimediaangebote mit Musik- und Videobeispielen. Einmalig und ganz auf die digitale Internetzukunft konzipiert ist aber auch der kooperative Verbund der Datenlieferanten. Denn zugrunde liegt ein neues Kooperationssystem zwischen Bayerischer Staatsbibliothek (BSB), der Ludwigs-Maximilians-Universität und der Bayerischen Gesellschaft für Musikgeschichte.

Über die Links zur Digitalen Bibliothek der BSB hat man Zugriff auf einen der weltweit größten Bestände von Musikalien, die dort seit dem 16. Jahrhundert gesammelt werden. Dazu gehört auch die Virtuelle Fachbibliothek Musik (www.vifamusik.de) als zentrales Portal für Musik, Musikwissenschaft, Forschung und Quellen sowie die Bayerische Landesbibliothek online. Die Links zu den elektronischen Zeitschriften sind im Aufbau. Eine konzentrierte Namenssuche wird mittels einer elektronischen Identifikation bewerkstelligt, nämlich der PND-Nummer der deutschen Nationalbibliothek. Sie wird aus der zentralen Referenzdatenbank für Personen aus dem deutschsprachigen Raum vergeben. Bisher bestand sie aus zwei Nummern: einer Nummer für beispielsweise Daten „von Mozart“, eine zweite für „über Mozart". Demnächst werden sie zu einer einzigen PND-Nurnmer zusammengeführt, mit deren Hilfe über den „International Authority File“ auch in den virtuellen Musikbibliotheken der USA, Großbritanniens und Frankreichs recherchiert werden kann. Zwei Mausklicks genügen.

Das ist eine Leistung, die sich sehen lassen kann. Ihre bescheidenen Anfänge liegen in einer losen Karteikarten-Sammlung. Begonnen haben sie Robert Münster, der ehemalige Leiter der Musikabteilung der Staatsbibliothek, der Orlando di Lasso-Experte Horst Leuchtmann und der Erlanger Musikologieprofessor Franz Krautwurst. Unter der engagierten Redaktion von Josef Focht reifte sie bis 2006 zum heutigen Online-Projekt.

Der elektronische Pool gilt inzwischen nicht nur als Forschungsinstrument der Zukunft, sondern als Pilotprojekt mit Beispielfunktion für die Geisteswissenschaften. Finanziert wurde es bisher von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der BSB, dem Kulturreferat der .Stadt München und einigen Sponsoren aus der Wirtschaft, darunter die Augustinerbrauerei. Die LMU stellt die Räume.

Aber im Unterschied zu gedruckten Lexika und „toten“ Enzyklopädien ist das BLMO eine „lebende Ressource“. Dies wiederum erfordert laufende Pflege: die Aktualisierung auf den neuesten Forschungsstand und eine beständige Weiterentwicklung. Denn es gibt noch viel zu tun, Verbesserungen inklusive. Die Finanzen aber werden knapp. Dringend erforderlich wäre eine vierte, verlässliche Schulter. Und wer wäre für so ein „Exzellenz“-Projekt bayerischer Kultur besser geeignet als ein bayerisches Ministerium, das sich um die Kultur kümmert?

Klaus P. Richter